Heute ist der World-Mental-Health-Day. Und anders, als wahrscheinlich viele Menschen es an diesem Tag tun, werde ich jetzt keine persönliche Erfahrung mit dir teilen. Ich möchte dir nur eine andere Perspektive aufzeigen, die verdeutlicht, was gerade auch im beruflichen Bereich bezüglich Mental Health noch zu tun ist.
Seit einigen Jahren erlebt das Thema einen erheblichen Auftrieb. Mental Health geht durch die Medien, es wird auf Depressionen und Burnout aufmerksam gemacht und langsam, aber sicher, normalisiert sich der Gang zur Psychotherapie. Schauen wir uns diverse Instagram-Profile an, kann schnell der Eindruck entstehen, dass eine psychische Erkrankung heute gar kein Problem mehr ist – vom Leidensdruck durch die Erkrankung selbst mal abgesehen.
Aber wie entstehen seelische Verletzungen eigentlich? Ich bin nicht in der Position, das professionell beurteilen zu können. Ich betrachte die unterschiedlichen Wege, auf denen sich die Psyche ausdrückt, aus der Diversity-Perspektive. Dabei frage ich mich nicht nur, ob jede psychische Andersartigkeit unbedingt behandelt werden muss, sondern auch, welche äußeren Einflüsse diese begünstigen. Konkret: Wie viel haben Diskriminierungsstrukturen mit der Entwicklung psychischer Erkrankungen, Diversitäten, oder wie immer wir es nennen wollen, zu tun?
Diskriminierung begünstigt Mental-Health-Probleme
Dazu gibt es ja auch Studien. LGBTIQ+-Personen bringen sich statistisch gesehen häufiger um als cisgeschlechtliche heterosexuelle Menschen. Rassistische Gewalt löst vielfach Traumata aus. Und nicht erst wenn etwas Schlimmes passiert, beeinflusst das marginalisierte Personengruppen. Wer struktureller Diskriminierung ausgesetzt ist, entwickelt schon früh andere psychische Prägungen als privilegiertere Menschen.
Nicht jede psychische Erkrankung hat etwas mit Diskriminierung zu tun. Aber jede hat einen Auslöser – oft hat er etwas mit gesellschaftlichen Normen zu tun oder diese sind dafür verantwortlich, dass Betroffenen nicht geglaubt und nicht geholfen wird. Das Thema hat viele Ebenen, die ich nicht alle in einem Blogartikel aufzählen kann. Das hier ist nur ein Einstieg, ein Gedankenanstoß. Aber ich denke, es reicht, um zu verstehen, was ich immer wieder denke, wenn ich so durch Instagram scrolle: Der Vergleich mit dem gebrochenen Bein hinkt.
Der Seele hilft kein Gips
Ja, oft ist zu lesen, eine psychische Erkrankung sei dasselbe wie ein gebrochenes Bein – mit dem Bein gehst du zum Arzt, mit der psychischen Erkrankung zur Therapeutin. Und die Aussage ist im Grunde richtig. Nur ist der Beinbruch vielleicht nicht die passendste körperliche Krankheit, die man seelischem Leiden gegenüberstellen kann. Das Bein wird eingegipst und heilt dann relativ schnell, vollständig und meist folgenlos. Ach, wenn es mit der Psyche nur genauso einfach wäre!
Überleg mal:
- Was sagt dein*e Chef*in, wenn du dir das Bein gebrochen hast?
- Wie reagieren deine Freund*innen und Verwandten?
- Was macht es mit deiner Partnerschaft?
- Machst du dir Vorwürfe, weil du den Gips nicht schon nach zwei statt sechs Wochen abnehmen kannst?
- Wird dir dein Arzt bei jeder zukünftigen Erkrankung sagen, dass das alles nur an deinem Beinbruch vor x Jahren liegt und er dich gar nicht zu untersuchen brauchst?
- Musst du fürchten, keinen neuen Job zu finden, falls rauskommt, dass du dir mal das Bein gebrochen hast?
- Darfst du noch verbeamtet werden, wenn du deinen Beinbruch behandeln lassen hast?
- Was meinst du: Verändert der Beinbruch deine Biografie nachhaltig?
Wenn dir diese Fragen ein bisschen komisch vorkommen, dann versuche sie doch mal für den Fall zu beantworten, dass du psychisch erkrankt wärst. Ja. Genau. Die Fragen wirken dann nicht mehr ganz so merkwürdig…
Den seelischen Gesundheitszustand öffentlich machen – nicht für alle möglich
So schön und bewundernswert es auch ist, dass sich mehr Menschen mit psychischen Einschränkungen öffnen – es birgt auch Gefahren. Wir sind noch lange nicht so weit, dass diese Offenheit keine besonderen Folgen hat. Menschen mit seelischen Verletzungen werden nach wie vor stigmatisiert und diskriminiert. Es ist mutig, im öffentlichen oder beruflichen Kontext über Mental Health zu sprechen, und es kann dabei folgendes passieren:
- Dir wird nicht geglaubt.
- Du wirst auf deine traumatische Erfahrung oder deine psychische Erkrankung reduziert.
- Du bekommst den Auftrag nicht (erst letztens fragte jemand in einer Facebookgruppe, ob es klug sei, eine Person mit psychischer Vorerkrankung zu beauftragen).
- Dir wird deine Geschäftsfähigkeit abgesprochen (weil du nicht gern telefonierst, auch das ist wirklich passiert).
- Du wirst nicht ernstgenommen.
- Dir wird deine Leistungsfähigkeit von Personen abgesprochen, die dich überhaupt nicht kennen.
- Hater*innen-Kommentare zielen auf deine psychische Erkrankung ab – Kritik wird ständig darauf bezogen.
- Du wirst bemitleidet.
- Du kannst dich zu keinem anderen Thema mehr als Expert*in positionieren – deine Nische wird von anderen für dich festgelegt.
Das alles kann, muss aber natürlich nicht passieren. Jedenfalls ist es berechtigt, vor diesen Konsequenzen Angst zu haben – sie sind real. Wer sich trotzdem dafür entscheidet, öffentlich über persönliche Mental-Health-Erfahrungen zu sprechen, gewinnt oft auch heilsame Erfahrungen:
- Du bekommst Zuspruch, Mitgefühl und Bewunderung von anderen.
- Du findest Kontakt zu Menschen, denen es ähnlich geht wie dir.
- Du brauchst dich nicht mehr zu verstecken und deine Erfahrung geheim zu halten.
- Du bist ein Role-Model.
- Du kannst aktiv mithelfen, dass die Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch erkrankter Menschen endlich aufhört!
Aber bitte sei dir auch dessen bewusst, was das öffentliche Sprechen über seelische Gesundheit für dein Leben bedeuten kann.
Wer entscheidet, was mit mir nicht stimmt?
Zum Schluss noch ein anderer Punkt, der Diversity betrifft: Wer entscheidet eigentlich, ob und was mit mir nicht stimmt? Klar willst du, dass dein gebrochenes Bein verheilt. Und wenn es dir wegen einer Depression eine Zeit lang schlecht geht, wünschst du dir natürlich auch, da raus zu kommen. Was aber passiert, wenn du gar keinen anderen Zustand kennst? Wenn du früh in deinem Leben traumatisiert wurdest und dich an ein „Vorher“ gar nicht erinnern kannst? Wenn du gelernt hast, mit deinen Einschränkungen zu leben, dir Schlupflöcher zu suchen, eigene Methoden entwickelt hast, dank derer es dir besser geht? Brauchst du dann eine Diagnose? Musst du dich einweisen lassen und Medikamente einnehmen? Oder darfst du selbstbestimmt für dich entscheiden, ob dieser oder vielleicht ein anderer Weg der richtige für dich ist?
Über diesen Aspekt lässt sich wunderbar streiten! Es geht dabei nicht darum, professioneller Hilfe ihren Wert abzusprechen oder einen einzig „richtigen“ Weg zu küren. Wie ich in anderen Kontexten so oft sage: Es gibt kein „richtig“. Es kommt immer auf die Perspektive an. Und letztendlich weißt du am besten, was du brauchst – ja, ich weiß, ob das bei psychisch kranken Menschen auch so ist, wird kontrovers diskutiert. Ich verstehe das. Es ist ein schmaler Grad zwischen Selbstbestimmung und Selbstzerstörung. Und jede*r muss selbst entscheiden, wie viel sie*er sich selbst zutraut. Ich persönlich möchte lieber selbstbestimmt einen Fehler machen als andere falsche Entscheidungen über mich treffen zu lassen…
P. S.: Für einen positiven Gegenpart zu diesem Artikel schau doch mal auf dem Blog meiner Partnerin, Theater im Kopf, vorbei. Sie beschreibt, warum wir eben doch mehr über Mental Health sprechen sollten.